Du sollst Dir ein Bild machen. Doris Hahlweg entführt uns in Neuland.
Oliver Herwig | 2020
Die Malerin empfängt in ihrem Atelier unmittelbar am Münchner Heizkraftwerk Süd. Grünes Licht quillt durch große Fenster, Reflexionen vieler Bäume entlang der Isar. An der grauen Stahltür prangt eine Collage. Dutzende von Post-Its kleben da, je unterschiedlich stark verblichen. Darauf Gedankenfetzen, Anregungen, Handlungsanweisungen. „Krapplack“ steht da etwa in Versalien, „Fällung“ oder einfach „Weiter“. Doris Hahlweg arbeitet nicht mit Acryl, das wäre der präzisen Arbeiterin zu wenig farbtreu im Prozess, sie nutzt Öl, das sie mit Pigmenten auflädt. Ölfarbe trocknet vergleichsweise langsam. So setzt Hahlweg, die sich selbst durchaus nicht zu den geduldigsten Menschen zählt, Wegmarkierungen am Ende eines Arbeitsgangs. Botschaften an sich selbst. Anknüpfungspunkte für den weiteren Weg an den Arbeiten, die parallel entstehen. Von einem Arbeitsgang zum nächsten wachsen sie, werden komplexer und vielschichtiger. Und zugleich selbstverständlicher, manchmal sogar wieder einfacher. Auf dem Weg dorthin verstärkt Doris Hahlweg die Eigentümlichkeiten der jeweiligen Kompositionen, die unter ihren Händen entsteht, sie lenkt den Fluss der Farbe, setzt Zäsuren und schafft Freiräume.
Arbeiten wachsen in einem Schwebezustand, den Psychologen wohl als Flow bezeichnen würden, der Fähigkeit, ganz im Augenblick und der jeweiligen Tätigkeit aufzugehen. Doris Hahlweg sagt das viel schöner: Ölmalerei zwinge zu einem langen Blick. Sie fordert Planung ebenso wie ein geübtes Auge und eine gute Intuition, den richtigen Pfad einzuschlagen. Denn ständig ergeben sich Weggabelungen im Prozess, Bifurkationen, die in wenigen Schritten völlig andere und kaum antizipierbare Resultate nach sich ziehen. Doris Hahlweg kennt diese Verzweigungspunkte, die Entscheidungen verlangen, und geht ihnen nach, ja fordert sie heraus, bis die Kompositionen nicht nur mit Pigmenten aufgeladen sind, sondern auch mit Energie. Sie bilden dann eine dünne Haut an der Grenze zweier Aggregatszustände, eine elastisch-gespannte Oberfläche, vergleichbar der, auf der Wasserläufer über Gewässer gleiten. Und wenn wir Glück haben, werden auch unsere Augen zu solchen Insekten, die über die Arbeiten gleiten und sie langsam in sich aufnehmen.
Der lange Blick – oder sollte man dazu sagen: der lange Atem – sorgt dafür, dass Arbeiten zugleich gewichtig und schwerelos erscheinen. Nichts ist Doris Hahlweg so suspekt, wie vertrauten Wegen zu folgen oder Formeln, die zwar Sicherheit versprechen, Entdeckungen aber weitgehend ausschließen. Alles hier ist ein Wagnis, ein Neuanfang, was nicht heißt, dass es nicht doch Verwandte gibt in ihrem Bildkosmos, aber diese werden immer wieder eingeschmolzen. Am Schönsten wie Anstrengendsten, so beschreibt es die Künstlerin, ist es, sich selbst zu überraschen und etwas auftauchen zu sehen, was bereits in der Arbeit angelegt war. Man kann diesen Prozess als Meditation über das Sehen bezeichnen oder als stete Neuerfindung der Welt. Kunst macht sichtbar, was latent angelegt ist – und für die wenigsten sichtbar. Sie legt Pfade an, auf denen wir, die Betrachtenden, folgen können.
… Sie stürzen, fallen zu Boden, lange Streifen – Blutsspuren? – hinter sich ziehend. Nein, bestimmt nicht. Die dreifarbigen Blöcke sind weder Meteore noch Engel oder Fragmente eines zerbrochenen Firmaments vor zerklüfteter Hügellandschaft, sie sind kompakte Kontrapunkte zu einem gestischen Hintergrund, der Farbe locker über die Bildfläche ausbreitet. Ihre blockhafte Härte und fest umrissene Form lassen sie hervortreten. Seltsam. Oben und unten sind aufgehoben. Offenbar sind Richtungsangaben bedeutungslos. Oder bewusst ausgehebelt. Die eigentlich der Schwerkraft folgenden Farbspuren steigen auf. Orange überlagert die roten Farbspuren, darüber liegen weitere Farbstreifen, wobei die ockerfarbenen in je unterschiedlichen Winkeln abknicken. Die Arbeit wurde offenbar mehrfach gewendet, bevor sie ihre endgültige Form erhielt. Hintergrund und Blöcke korrespondieren. Sie spannen zusammen einen Raum auf, in dem ich mich gerade verliere …
is Hahlweg schafft Denkräume, in denen sich Betrachtende tatsächlich verlieren können. Ihre Arbeiten umgreifen einen Augenblick in dem etwas Form annimmt – ohne vollends greifbar oder begreifbar zu werden, wie umgekehrt Träume beschrieben werden können als „Türme schmelzenden Eises“, wie es der Autor Wernfried Hübschmann treffend nannte. Ist es das? Ein Prozess, der Kontrolle abgibt ohne an Präzision zu verlieren? Der genau ins Vorsprachliche zielt. Plötzlich sagt Doris Hahlweg etwas, das aufhorchen lässt: „Eine Form, die ich nicht kann“ – dabei steht sie doch schon da, deutlich zu sehen. Post-It.