KI = Künstlerische Intelligenz
Laudatio zur Verleihung des  Seerosenpreises 2022 | Dr. Oliver Herwig | 2022

Lassen Sie mich heute über KI sprechen. Über Künstlerische Intelligenz, die Gedanken bildnerisch verdichtet. Gegen die moderne Welt der Uniformierung werde es zur Aufgabe, (…) Ungesehenes zu schaffen“, meinte Wolfang Welsch schon 1990. Ähnlich wie Theodor W. Adorno Jahre zuvor: Es komme darauf an, „Dinge (zu) machen, von denen wir (noch) nicht wissen, was sie sind.“

Diese Künstlerische Intelligenz ist hier zu erleben. Sie schwebt durch den Raum, diesen gigantischen Kubus mit neun Metern Höhe. Es ist die Künstlerische Intelligenz von Doris Hahlweg, der heute der Seerosenpreis 2022 verliehen wird. Ihr gelingen Bildarchitekturen, die Freiheit bedeuten und doch den Blick gefangen nehmen und uns bereichern. Da ist eine unerhörte Leichtigkeit in diesen Arbeiten.

Vor und über uns sind Bilder der letzten drei Jahre. Arbeiten in Öl auf Aluminium, also Metall, das die Pigmente hintergründig zum Leuchten bringt und ihnen Randschärfe verleiht. Darüber Ölfarbe, die in ihrem Trocknungsprozess für die allmähliche Verfestigung der Komposition steht, die Schicht auf Schicht kristallisiert.

Malerei öffnet bei Doris Hahlweg einen Möglichkeitsraum. Wissenschaftliche und künstlerische Imagination laufen hier parallel, sie geben Ideen Form. Das geschieht nicht abbildend, sondern schöpfend. Hier gelingen neue Zugänge zur Welt, und wir alle können sie sehen, besser noch: erleben.

Was aber ist zu erleben? Nichts weniger als der Prozess der Bildwerdung. Doris Hahlweg arbeitet beispielsweise mit breiten Pinselstrichen einen grünen Farbraum heraus, der gestische Schwung ist unmittelbar. An der Grenze zum Blau setzt sie einen noch helleren Akzent, der gewissermaßen Territorien abgrenzt und sie so in Beziehung setzt. Es entsteht eine gefestigte Topographie. Doch Vorsicht. Von rechts schießen kammartige Farbstreifen in den Bildraum. Orange auf Grün und über Blau. Unten das Gegenstück: Schwarzer Verlauf von links nach rechts. Die Arbeiten wurden also gedreht, gewendet und verdichtet. Ein Farbfleck rechts unten stabilisiert das Gefüge wie ein umgekehrter Schlussstein.

Keine Arbeit trägt einen Titel. Doch könnte man hier an die geniale Bildbeschreibung von Sigmar Polke denken: „Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!“, in diesem Fall freilich „untere Ecke blau malen.“ Diese „höheren Wesen“ sind keine esoterischen Geister, sie heißen Erfahrung, Können und Mut.

Doris Hahlweg zeigt, wie minimale Veränderungen den Bildraum in Schwingungen versetzen. Und genau das spüren wir: die vibrierende Präsenz von Farbe einer Expertin, die seit Jahren Pigmente auf ihre Wirkung und ihren Zusammenklang überprüft.

Diese Versuchsreihen entstehen parallel, ohne sich durch feste Systeme einengen zu lassen. Jede Arbeit steht für einen Neuanfang, eine frische Auseinandersetzung mit dem Bildraum. Sie zeigen Ausbrüche aus den Restriktionen der Flachware. Deutlich zu sehen sind Kuben, die den Bildraum mal durchdringen, dann strukturieren, schließlich unterminieren. Da tauchen unmögliche Schatten auf, da wird der Bildraum, der eben noch klar lesbar war in ein vorne und hinten, wieder aufgebrochen. Den Rahmen sprengen heißt hier, dass Arbeiten vielschichtig werden und mehrere Lesungen herausfordern. Hier können Auge und Geist auf Entdeckungsreise gehen.

In den letzten Jahren hat Doris Hahlweg den Prozess stärker in den Mittelpunkt gestellt, all die Wendungen und Windungen, die sich wissenschaftlich am besten als Flow bezeichnen lassen. „Malerisch kann ich es früher stehen lassen“, sagt sie. Das funktioniert im Wissen um das eigene Können. Malerei wird zum Flussmittel der Gedanken, Arbeiten entstehen im virtuosen Spiel der Farbmassen. Diese befreiende Energie tanzt durch den Raum und regt unsere Gedanken an. Auch hier entstehen Möglichkeitsräume. Das ist Künstlerische Intelligenz.