Zur Ausstellung Doris Hahlweg in der Galerie arToxin
Friedrich G. Scheuer | April 2024
In unserem Milieu wird viel gelabert. Das hat Gründe, allgemeine und persönliche Gründe.
Es beginnt mit der Unklarheit des Wortes KUNST. Es ist ein Begriff, der wie andere Universalbegriffe, wie Freiheit, wie Gerechtigkeit, keine Referenzen in der Wirklichkeit hat. Es gibt kein Kunstwerk, das den Begriff KUNST in Umfang und Radikalität vergegenwärtigen würde: Raum für Irrtümer, Missverständnisse, für Dummheiten.
Ein allgemeines Missverständnis ist zu glauben, der Gegenstand der Kunst sei die Wirklichkeit. Das Wirkliche ist Anlass. Der Gegenstand der Kunst ist unbestimmt. Unbestimmt ist jener Teil der Wirklichkeit, der sprachlich nicht erreichbar, der unbegrifflich ist.
Bei Suhrkamp erschien posthum die „Theorie des Unbegrifflichen“ von Hans Blumenberg. Gernot Böhme sprach von „Das Atmosphärische“ und Adorno „Das Nichtidentische“, ein Begriff, entwickelt aus der Beschäftigung mit Naturschönheit. Der Satz ist es wert, vollständig gesagt zu werden:
„Es ist die Spur des Nichtidentischen im Bann universaler Identität.“
Frau Hahlweg malt Bilder des Nichtidentischen.
Es scheint schlüssig, den Begriff des Unbestimmten mit abstrakter Kunst zu verbinden. Er würde auch für ein – von Doris gemaltes – Apfelstillleben gelten. Das Wort Apfel bestimmt den Apfel begrifflich, nicht ästhetisch. Die ästhetische Bestimmung geschieht im Bild.
Bedeutung. Wir sind bedeutungsfromm. In der Alten Pinakothek hängt „Die 7 Freuden der Maria“ von Hans Memling, in Berlin Brueghels „Die niederländischen Sprichwörter“. Die Unkenntnis der Freuden Mariens und der über 100 – szenisch gemalten – niederländischen Sprichwörter reduziert nicht den ästhetischen Wert der Bilder. Bedeutungen sind Zuschreibungen, sind kontingent, oft Missverständnisse gut gemeinten Interpretierens.
Eine Notiz Hans Blumenbergs als er am Fernseher zum ersten Mal eine Aufnahme der Erde aus dem All sah: Er vermisste einen sehr kurzen Augenblick die Längen- und Breitengrade.
Ein Zahnarzt nach Beendigung der Behandlung: „Jetzt können sie wieder mit Genuss in einen Apfel beißen.“
Ich dachte ohne nachzudenken an Adam und Eva, an deren Apfelbiss und dessen Folgen. Cranach übertraf die Prognose des Zahnarztes. Bilder, falsch gerufen, täuschen.
Es gibt Fehlschlüsse. Der logische Fehlschluss ist bekannt, auch der Sein-Sollen-Fehlschluss des David Hume.
Der narzisstische Fehlschluss spreizt sein Gefieder: Das Bild gefällt, also ist es gut. Das Bild gefällt nicht, also ist es schlecht. Warum? Die Frage verdrängt die narzisstische Einbildung und drängt, sich die Beschaffenheit des Bildes zu erschließen, die geistige und die stoffliche Beschaffenheit.
Doris Hahlwegs Bilder sind sinnlich vollzogenes bildnerisches Denken, kompromisslos selbstbezüglich.
Selbstbezug bezieht sich nicht auf die Autorin, bezieht sich auf die immanenten bildnerischen Tatsachen, auf Farbe, Form, auf die stoffliche Evidenz. Selbstbezüglichkeit als Marotte künstlerischer Überspanntheit missverstehen Menschen, die selbst Produkt sind einer gigantischen selbstbezüglichen Ordnung – der Evolution.
Die Evolution entwickelte sich – mit Sonnenhilfe – aus sich, korrigierte sich an sich, entfaltete sich für sich.
Selbstbezügliche Bilder sind die ästhetischen Rätsel unserer emanzipatorischen Entwicklung. Sie sind der Eigensinn der Malerei.
Wir zerlegen um analysieren zu können. Das große Ganze verstehen wir nicht. Auch Farben sind unverständlich. Wir messen die Wellenlänge des Lichts der Farben, messen Rot und die Rotverschiebung im Spektrum des Lichts forteilender Sterne und Galaxien. Aber wir verstehen nicht die komplexe Wesenstiefe von Rot.
Wir wissen die Temperatur im Innern der Sonne, die Dynamik der Protuberanzen, wir berechnen ihre Wasserstofffusionen, ihre Expansion bis zur Jupiterbahn bevor sie kollabiert. Wir verstehen Messwerte. Aber: Wir verstehen die Sonne nicht als kosmisches Wesen, als kosmisches Subjekt.
Wir verstehen uns sozial, im Verhältnis zur Geschichte, zur erforschten Welt. Ein anderer Begriff für Verhältnis ist Proportion. Höhe, Breite, die rechten Winkel des Bildformats sind das Bezugsfeld für die Binnenstruktur, für die Koordinaten der Einzelformen und für deren Rhythmus, gewisserma-ßen für die ästhetischen Spuren physiologischer Lebendigkeit.
Auch Tonwerte, Hell/dunkel-Kontraste weisen ins Humane, bezeichnen – ohne Symbol zu sein – Gemütszustände, und besonders feininnige Politiker sprechen von „dunklen Stunden deutscher Geschichte“. Der unverzeihliche Euphemismus meint die Nazizeit, die keine dunklen Stunden waren sondern Jahre des Verbrechens.
Isolation. Das Individuum, die isolierte Form, eine Farbe ohne korrespondierende Bezüge kann verkümmern oder souveräne Pracht entfalten und Hof halten über die Chromatik von Gelb/Ocker. Sieh die blaue Form der unteren Bildhälfte. Sie herrscht für sich, stärkt und differenziert das Gelb.
Wenn Sie beim Zähne putzen den Mund öffnen, fällt das Gurgelwasser ungelenkt Richtung Erdmittelpunkt ins Waschbecken. Ein Energieschub, Spucken bewirkt die Änderung der Linie der Schwerkraft.
Doris Hahlweg erzeugt Linien aus den physikalischen Eigenschaften der Konsistenz der Farben, der Erdanziehung und ihrem energischen Eingriff durch Verkanten der metallenen Malfläche zur Bestimmung der Fließrichtung und der Länge der Linien.
Eine seltsam kausale Unerbittlichkeit steht im dialektischen Kontrast zur weichen Handmalerei der parallelen Strukturen im oberen Bildteil.
Doris Hahlwegs Welt enigmatischer Farben – jenseits von Dekor und Signal – halten den Blick in Unruhe, in unabgeschlossener Aufmerksamkeit. Gelb lotet seinen chromatischen Reichtum aus, lässt die Temperaturen der Sättigung fühlen als hätten Farben erotische Neigungen: erreichbar der besonnenen, vorurteilsfreien Anschauung, unerreichbar einem Denken kalkulierter Informationsverwertung.
Malerei macht Sehen sichtbar. Das ist der Sinn der Bilder, die Anekdotisches meiden, die Form suchen für das Unbestimmte vitaler Komplexität. Doris Hahlwegs Bilder sind sinnlich reife Zeichen einer ästhetischen Verfassung unserer biologischen Existenz.