Rede zur Ausstellungseröffnung im Schloss Schramberg
Dr. Andreas Kühne | 12. Juni 2015

„Der Kopf kann nicht malen“, heißt es in einem Text von Silvio Blatter über zeitgenössische Malerei.
„Die Hand allein schafft es auch nicht. Sie schichtet Farbe über Farbe, kratzt sie wieder ab, löst sie auf und erneuert sie.“ Sie ist unmittelbar an einem Prozess beteiligt, der schließlich – im glücklichen Fall – zu einem Ende der Farb- und Formbewegungen führt.

Diesem Prozess, der mit einem fertigen Bild endet – oder enden kann – will ich ein wenig nachspüren. Natürlich können alles nur Annäherungen sein. Der Komponist Pierre Boulez, der gerade seinen 90. Geburtstag gefeiert hat, und der sich viel mit bildender Kunst beschäftigt hat, war sich dieser Diskrepanz bewusst, als er schrieb: „Ich lese Kommentare zur Malerei aufmerksam und muss immer wieder erkennen, dass auch die guten Schriftsteller nicht zu dem wirklichen Kern eines Werkes vordringen: Was sie sagen bleiben bestenfalls poetische Äquivalente.“
Wir sind schon wieder in der „Ohrenwelt“ angelangt, wie Silvio Blatter in einem Text mit dem programmatischen Titel „Farbgeschehen“ über die Arbeiten von Doris Hahlweg geschrieben hat.

Ich habe, wenn ich mit einem Bild beginne, keinen festen Plan, sagt Doris Hahlweg.
Im Laufe des Prozesses sehe ich erst, wie sich die Farbaufträge zueinander verhalten.
Dieser langsamen, überlegten, aber nicht kalkulierten und austarierten Vorgehensweise entspricht, dass sie häufig an mehreren Bildern parallel arbeitet.

Und – auch diese ist eine Besonderheit, die mir erwähnenswert erscheint, weil sie genuin mit ihrer Kunstauffassung zu tun hat – sie gehört zu einer, in der zeitgenössischen Kunst seltenen Spezies. Nämlich zu den wenigen Künstlerinnen und Künstlern, die ihre Ölfarben noch selbst herstellen. Im Gespräch mit Doris Hahlweg erfährt man, dass sie eindrucksvolle Kenntnisse der Eigenschaften von Pigmenten und Bindemitteln besitzt. Als Bildträger verwendet sie ebenfalls ein ungewöhnliches Medium: nämlich Aluminiumplatten, die sowohl den materiellen als auch den sinnlichen den Charakter der Farbe stärker zur Geltung kommen lassen. Doris Hahlweg schätzt die technische Anmutung und die Härte dieses Materials, seine präzisen Ecken und Kanten. Und sein hintergründiges Leuchten, das durch die Farbschichten hindurchzudringen scheint.
Während des malerischen Prozesses entsteht die Form oder besser: die Formen. Die Form ist nicht festgelegt, sondern sie verändert sich mit Rücksicht auf die farbigen Nachbarschaften“. Farbe, die keine Form besitzt, bleibt – ihrer Überzeugung nach – eine bloße Dekoration. Mit dieser Überzeugung nimmt sie eine klare Gegenposition ein zu Künstlern wie Rupprecht Geigen, die ihr Leben lang danach trachteten, die Farbe von der Form zu befreien. Was per se eine Illusion bleiben muss.

Charakteristisch für die Bilder von Doris Hahlweg ist weiterhin, dass die räumlichen Beziehungen zwischen den Formen in den Hintergrund treten, teilweise aufgelöst werden, aber ihren Raumbezug nie völlig verlieren.

Die Herstellung eines Bildes mit dieser Form ist ein langwieriger, zeitaufwendiger Prozess. Oder – um den Prozess mit einem modischen Wort zu bezeichnen, das mir aber hier sehr treffend erscheint – er ist eine Form der Entschleunigung. Spontane Gesten werden durch diesen Prozess zueinander in Beziehung gesetzt und dadurch relativiert und austariert.

Nachdem ich ihnen einige Bausteine für den Versuch geliefert habe, den Arbeitsprozess der Malerin besser verstehen zu können, komme ich jetzt zu einem Begriff, der in der Geschichte der klassischen Moderne eine zentrale Rolle gespielt hat. Nämlich dem der Ent-Grenzung. Bilder – und dies gilt natürlich nicht nur für die von Doris Hahlweg – sind be-greifbar als Gebilde, die in sich als Ganzheiten organisiert sind, selbst aber wieder Fragmente einer sie übergreifenden Totalität darstellen. Innerhalb ihrer physischen Grenzen erfüllen Form- und Farbbewegungen die Bilder von Doris Hahlweg, die über eben diese Grenzen hinausgreifen. Ihre Bilder gehören zu denjenigen, die Fragen nach der Be- und Ent-Grenzung geradezu provozieren. Sie bezeugen „das Verhältnis von Totalität und Fragment auf eine jeweils besondere und zugleich vergleichbare Weise, indem sie als eine jeweils begrenzte Form auf ein Sein hindeuten, das sich außerhalb der begrenzten Form befindet und keine sichtbaren Grenzen besitzt.“ (Max Imdahl).
Ausgehend von ihrem Atelier, ihrem unmittelbarsten, kleinsten Wirkungskreis, der Staffelei, der Geometrie des Arbeitsraumes, hat sich ihr Gesichtsfeld stetig vergrößert und erweitert. Aus dieser Korrespondenz mit der Außenwelt erwächst die Frage, wo ein Bild anfängt, wo es aufhört und wie es mit der Umgebung Zwiesprache hält. Gerade weil Doris Hahlweg nicht in seriell arbeitet, ist die Art und Weise, wie ihre Bilder untereinander und miteinander kommunizieren, d. h. ihr Anordnung im Raum, und ihre ektoplasmatischen, als nicht-klassische Diptychen lesbaren Fortsetzungen wesentlich für unsere Wahrnehmung. So wie sich die einzelnen Farbpartien innerhalb eines Bildes zueinander verhalten, müssen sich auch die verschiedenen Bilder auf einer Wandfläche zueinander verhalten.

Nun, wenn wir das Resultat, das fertige Bild, vor uns sehen, stellt sich die Frage, wovon ihre Malerei erzählt, wenn sie überhaupt etwas erzählt. Primär erzählt sie von der Malerei selbst. Aber das ist nicht viel mehr als eine banale Tautologie. Leichter ist es zweifelsohne festzustellen, wovon sie nicht handeln, nämlich von der Ästhetik des Alltags. „Vielleicht ist es unser kollektives Gedächtnis, das uns dazu zwingt, Gegenbilder zur Alltagsästhetik zu entwerfen“, vermutet die Malerin. Doch die Topographie des kollektiven Gedächtnisses ist nicht durch einfache Analogien und Metaphern zu entschlüsseln. Natürlich enthalten einige ihrer Bilder architektonische Elemente, miteinander verschränkte Gitterstrukturen und Landschaftsassoziationen. Aber in summa lassen sich ihre Bilder nicht über Dinglichkeiten erklären. Dennoch ist ihre Malerei keine Spielart der konkreten Kunst, sondern etwas dazwischen. Etwas zwischen Mimesis und konkreter Kunst. Etwas, wofür wir keinen festen Begriff haben. Einerseits abstrahiert sie grundsätzliche keine Kühe, Pferde, Katzen, Rasenstücke, Jahreszeiten oder die vier Winde, andererseits lässt sie sich durchaus von Dinglichkeiten an- und aufregen. Und natürlich sind ihre Produkte, die Bilder, dinglicher Natur. Diese Bilder ließen sich nicht nach einem irgendwie gearteten Algorithmus à la Max Bill reproduzieren, permutieren, variieren. Sie sind kein ästhetisches Spiel mit definierten Parametern, sondern eine in die Grenzenlosigkeit strebende Angelegenheit. So wie das Leben selbst. Daraufhin weist auch der Titel der Ausstellung: „Grüne Erde schräg, läuft“. Auch dieses Sprachspiel strebt in die Ent-Grenzung, in die vielfältige Verzweigung der Möglichkeiten: „Grüne Erde läuft schräg. Schräg, läuft Erde grün. Grün, läuft Erde schräg“.

Was Doris Hahlweg auf ihren Aluminiumtafeln über- malt, zerstört, freilegt, verhüllt und enthüllt, verbirgt und entbirgt formt sich in toto zu einem originalen und originellen Bild, das so noch nicht gesehen wurde und unserer wahrnehmbaren Welt etwas Neues, bisher nicht Dagewesenes hinzufügt. Sie deckt zu, immer weiter zu, bis die neuen Farb- und Formphänomene kaum noch etwas von ihren Ursprüngen ahnen lassen. Manchmal öffnet sich dem Betrachter ein kleines Fenster, das es erlaubt, zum Ausgangspunkt der Wanderung zurückzuschauen. „Ich arbeite so lange“, so fasst sie es zusammen, „bis ich überzeugt bin, das Ergebnis noch nie gesehen zu haben.“ Dann besitzt das Bild für sie eine Daseinberechtigung.

Diesem Selbstverständnis entspricht, das sie ihr Atelier als eine Art Labor betrachtet, dass sie ihre Arbeiten so lange liegen lässt, bis sie das Gefühl hat, dass sie auch in der Welt außerhalb der Atelierwände bestehen zu können. Sonst werden sie verworfen. Das nie Gesehene, dabei durchaus Lapidare, Reduzierte und Eindringliche, jedoch nicht das Überwältigende bleibt ihr Ziel und Prüfstein. Während der Arbeit geht sie nicht kalkulierend vor, das reine Kalkül ist eher ein Störfaktor für diese Alchemistin der Bildfindung.

Doris Hahlweg – ich komme noch einmal auf den Prozess zurück – verdichtet, verändert und überarbeitet ihre Bilder so lange, bis sie jenen Moment festgehalten hat, der es wertvoll, ja geradezu zwingend macht, ihre Bilder anzuschauen und wiederholt zu betrachten. Jenen Moment, der der Einbildungskraft freies Spiel lässt, und zugleich Spuren fixiert. Doch anders als beispielsweise André Masson, der die reale Welt in bildnerischen Metaphern festzuhalten suchte, in dem er ihre Spuren malte, ihre Fährten, ihre Abdrücke und Jahresringe – eine Bild von Masson mit dem Titel: „Le sang des oiseaux“ (1956) hielt den Tod mit der Hilfe von Blutspuren fest, ohne die getöteten Objekte selbst darzustellen – hält Doris Hahlweg in ihren Bildern die Spuren von Stimmungen, Gedanken und Gefühlen fest. Wir, die Betrachter, können diese Lebensäußerungen und Ent-Äußerungen nicht nachschaffen. Aber wir können sie durch die Wahrnehmung ihrer Spuren neu erschaffen.
Bei dieser Tätigkeit verändern wir uns.
Beschenkt durch eine neue, so noch nicht dagewesene Seh-Erfahrung, haben wir die Möglichkeit, uns selbst auf eine neue und veränderte Weise zu begegnen.