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Am Sehnerv getroffen, von Dr. Oliver Herwig, 2009

Licht flutet die hohe Werkstatt, eine ganze Wand bietet nur Aussicht: Hof, Baum, Himmel. Die ehemalige Fabrik in Münchens Klenzestraße scheint wie geschaffen für Ateliers. Vor dem Fenster steht eine Werkbank, die zugleich als Tisch dient. Oder ist es ein Tisch, der zur Werkbank wurde? Die schrundige Platte ist von vielen Schnitten vernarbt. Es riecht nach Leinöl, fast meint man Farbe greifen zu können, die sich im Metallregal in feinen und feinsten Abstufungen als leuchtendes Pigment materialisiert hat.

Doris Hahlwegs Atelier verändert Wahrnehmung, fast wie es ihre Arbeiten tun. Mitten im lebhaften Glockenbachviertel steht ein Ort äußerster Konzentration. Alles scheint in eine Möglichkeitsform gerückt. Transformiert das Museum seine Inhalte in eine Welt des Gestern, den Wärter und seine Spuren an der Wand ebenso wie das nachträglich angebrachte Schild oder das vergessene Papier auf dem Boden, weist das Atelier in die entgegengesetzte Richtung: Hier wächst Zukunft.

Keine Staffelei, keine Leinwand. Doris Hahlweg schätzt die technische Härte von Aluminium, seine Kanten, seine Präzision. Und sein hintergründiges Leuchten, das Licht durch Farbschichten ins Auge des Betrachters wirft. Sie arbeitet auf 40 Zentimeter hohen Böcken, um die Dimensionen ihrer Bilder besser abschätzen zu können. Dutzende Pinsel hat die Künstlerin griffbereit. Sie arbeitet stets an mehreren Kompositionen zugleich. Öl ist eine langwierige Angelegenheit, die spontane Geste ordnet sich dem Prozess unter. Schicht auf Schicht wird das Neue zu immer dichteren Bahnen verwoben, wird zur eigenen Geschichte. Sie erzählt von Schwingungen im Farbraum, von leisen Spannungen, von kaum sichtbaren Störfeldern und überraschenden Wendungen. Zum Trocknen lehnen die Arbeiten an den Wänden, manchmal bis zu 30 Stück.

Doris Hahlweg legt die Basis für verschiedene Bilder zugleich. Seriell zu arbeiten wäre verführerisch. Aber jedes Schema, jede Formel ist ihr verhasst. Sie muss sich selbst überraschen, wieder und wieder. "Ich arbeite so lange", sagt Doris Hahlweg, "bis ich das Gefühl habe, dass ich das noch nie gesehen habe." Dieses Gefühl trügt nicht. Ausgetretene Wege, bekannte Gesten sind diesen Arbeiten fremd, ebenso wie oberflächliche Harmonie. Hahlweg verschreibt sich dem Prozess, den sie als Dirigentin eines Farborchesters lenkt, das strenge Klangfarben ertönen lässt, sich plötzlich auflöst und den Weg der Improvisation einschlägt.

Sie selbst spricht von ihrem Atelier als einem Labor, zum eingehenden Betrachten nimmt sie Arbeiten mit nach Hause. Dort müssen sie bestehen, sonst werden sie wieder eingeschmolzen und weiter getrieben. Doris Hahlweg kann sich diesen Luxus leisten, denn sie schöpft aus der Malerei selbst. Es geht um Innovationen. Wenn eine Setzung gelingt, das heißt lapidar und selbstverständlich steht, hat sie gewonnen. Das Unerhörte, nie Gesehene, Überraschende bleibt Antrieb und Auslöser zugleich. Und immer wieder gelingt es der Künstlerin, den Sehnerv direkt zu treffen und das Auge auf neue Pfade zu (ent)führen. Brüche reizen. Mit jedem Bildwerk analysiert Doris Hahlweg das Wesen der Farbe selbst, die sie zu Massen verdichtet und mit Spachtel und Pinsel verschiebt, verdrängt und erneut setzt.

Wer Arbeiten der letzten Jahre sieht, ist fasziniert vom Spektrum, das sich Doris Hahlweg erarbeitet hat. Farbschlieren und Schraffuren finden ihr Pendant in feldartigen Kompositionen. Weit entfernt von Seriengemütlichkeit hat die Münchnerin ein Repertoire erobert, das nicht auf einen Nenner gebracht werden kann. Neben stark komponierte Arbeiten, die ganz von der Tektonik leben und deren Farbplatten genau aufeinander bezogen sind, sich begegnen und wieder entziehen, löst sie Farbmassen in dunstigen Andeutungen auf oder schafft nahezu monochrome Arbeiten, deren Vibrationen tiefer ansetzen. Deckend-Dichtes provoziert Luftig-Leichtes.

Am Boden stehen dreidimensionale Arbeiten, die Grenzlinien zwischen Skulptur und Flachware ausloten, als wollten sie Farbschichten in den Raum treiben und einen ganz eigenen Farbraum definieren, sich ausbreitend und doch genau begrenzt.

Hahlweg schöpft aus den Möglichkeiten der Malerei ohne sich zu erschöpfen. Kühne Kompositionen schwingen in feiner Balance. Der Betrachter kann sich in sie vertiefen, abtauchen zwischen den Farbmassen. Mitunter verschwinden ganze Partien. Sie werden abdeckt, aber nie auslöscht. Die Arbeit wandelt sich zum Relief, zu einer les- und fühlbaren Textur von Möglichkeitsformen, die schließlich Gestalt annahmen.

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